Unpolitische Erinnerungen by Mühsam Erich

Unpolitische Erinnerungen by Mühsam Erich

Autor:Mühsam, Erich
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-02T16:00:00+00:00


Pariser Eindrücke

Das Jahr 1907 war für mich von Anfang an eine ununterbrochene Folge von eindrucksvollen Erlebnissen und konzentriertem Erleben. Von Wien aus hatte ich mich zunächst wieder nach München getrollt, wo ein paar Monate lang Leib und Seele von allerintensivsten, dabei ganz heterogenen Sensationen in Anspruch genommen waren. Diese Sensationen haben nur zum kleineren Teil mit dem Ausschnitt meiner Erinnerungen zu tun, der hier zu behandeln ist. Zum anderen Teil fiel ein politisch heftig bewegter Kampf in diese Zeit und endlich auch das völlig persönliche Ereignis einer Liebesleidenschaft, wie sie ein Leben nie zweimal produzieren kann, von der rückblickend Rechenschaft abzulegen aber eher die Aufgabe lyrischer Gedichte als die eines Memoirenwerkes ist. Als die Partnerin des Erlebnisses im Frühjahr München verlassen hatte, flüchtete ich an den Lago Maggiore.

In Ascona widerfuhr mir diesmal allerlei Widerwärtiges, was mit den Versuchen russischer Freunde zusammenhing, der fast vollzogenen Liquidation der Revolution von 1905/06 doch noch Schwierigkeiten zu machen, und was mir eine ziemlich romantische Fußtour zum Antico Castello in Locarno eintrug, nämlich in Begleitung einer bewaffneten Gendarmerie-Eskorte und mit schweren Eisenfesseln an den Händen. Da mein Aufenthalt in der von außen wundervollen, als Behausung von Menschen aber höchst unsympathischen Ruine – ich vermute, es ist dieselbe, von der Kleist im »Bettelweib von Locarno« erzählt – nur siebzehn Stunden dauerte, scheint ja von maßgebender Stelle bestätigt, daß die Verhaftung nur sehr wenig durch meine politische Tätigkeit bedingt war; darum glaubte ich sie als nicht eben alltägliches Intermezzo erwähnen zu sollen. Auch half dies Intermezzo den Entschluß reifen zu lassen, bald einen andern Schauplatz der Künste, Taten und Abenteuer zu wählen.

Mein Freund Nohl hatte Paris schon kennengelernt und riet mir dringend, hinzufahren. Der Antrieb der Neugier und der verschwommenen Illusionen war ohnehin längst wirksam. So schrieb ich eines Tages an Gustav Landauer mit der Bitte, mich den gesinnungsmäßig nahestehenden Freunden zu empfehlen, und trat die herrlichste Reise meines Lebens an. Die Fahrt über den See nach Pallanza, die ich schon mehrmals gemacht hatte, ist mir durch ein besonderes Erlebnis unvergeßlich. Auf dem Dampfer wurden geschlachtete Kälber transportiert, die auf dem Verdeck ausgebreitet lagen. Dieser Köder lockte Raubvögel an, und so begleiteten uns nach und nach vier prachtvolle Steinadler, die aus ungeheurer Höhe immer wieder versuchten, an die Beute heranzukommen, und bis dicht über unsere Köpfe hinunterstießen, so daß wir die prachtvollen Tiere mit ihren riesigen Schwingen in fast greifbarer Nähe beobachten konnten. Von der Bewegung der an Deck herumlaufenden Menschen geschreckt, wagte sich keiner der Räuber ganz an die Kälber heran; unmittelbar vor dem Ziel schossen sie wieder hinauf und waren im Bruchteil einer Sekunde nur noch als Pünktchen am Himmel zu sehen. In Pallanza wurden die Schlachttiere ausgeladen, und die Adler verschwanden in den Bergen.

Ich fuhr nach Domodossola und stieg von dort den Simplonpaß hinauf, um zu Fuß die Westschweiz zu erreichen. Die Bahn durch den neuen Tunnel war noch im Bau, wurde aber schon eingleisig benutzt. Das Hospiz in über zweitausend Meter Höhe stand noch jedem Reisenden zur Verfügung. Nach elf Stunden Wandern langte ich bei den Mönchen an, bei denen ich eine mir ganz neue Welt kennenlernte.



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